Die Entwicklung der Initiative aus unterschiedlichsten Blickwinkeln und Perspektiven beleuchtet im Interview der ehemalige Geschäftsführer Peter Diegel-Kaufmann/ geführt mit Stefan Lerach

Welche Rolle hat die Auseinandersetzung mit Politik für die Entwicklung der WALI als Träger in den letzten 30 Jahren gespielt? Wie wichtig war es, politische Ereignisse zu verfolgen? Partei zu ergreifen? Welche konkreten Ereignisse waren für die Geschichte des Trägers prägend? Welche Entwicklungen sind langfristig eingeflossen in die konkrete Arbeit mit Langzeitarbeitslosen?

Was den Beginn der Arbeit einer Arbeitsloseninitiative angeht – egal ob in Gießen oder Wetzlar, Frankfurt oder Kassel – so waren es doch die Akteure, die Betroffenen, die auf die Idee kamen, eine solche Initiative oder etwas Ähnliches zu gründen.

Diejenigen, die sich mit dem Themenfeld Arbeitslosigkeit aus einander setzten und eine Initiative gründen wollten, dachten in der Regel politisch und orientierten sich an bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die Masse dachte freilich damals schon im Sinne einer modernen Wegwerfgesellschaft. Brecht drückte das in seinem Gedicht „Schlechte Zeiten für Lyrik“ wie folgt aus: „Der verkrüppelte Baum im Hof zeigt auf den schlechten Boden, aber die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel. So erging es Arbeitslosen in der Regel in der damaligen gesellschaftlichen Situation: Stigmatisierungen wie „selber schuld“ und „wer Arbeiten will, findet auch Arbeit“ waren die gängigen, ignoranten Sprüche am Stammtisch, im Stadtbus oder zuhause am Küchentisch. Keine guten Zeiten für Erwerbslose also.

Die große Gründungsphase von Arbeitsloseninitiativen fällt in die Zeit nach den ersten Krisen im Rahmen der nicht mehr so jungen Geschichte der Bundesrepublik. Es ging weit über die Anfangsphase der Bundesrepublik hinaus, wo es einen „Bodensatz“ von Arbeitslosen um die 150.000 bis 200.000 Betroffenen gab, die man heute noch gerne benutzt, um Erwerbslose zu stigmatisieren.

Später gab es qualitativ große Einschnitte in Richtung struktureller Arbeitslosigkeit. Ende der Sechziger Jahre, begleitet von Studentenunruhen und einer allgemeinen Politisierung, die in alle möglichen Richtungen führte, nicht nur in Richtung einer Frauen- oder Umweltbewegung, kam es zu politischen Strömungen und Bewegungen, die auch das Soziale in der Bundesrepublik zum Thema machten.

Diese Aktivisten versuchten, nicht nur auf die Bäume zu schauen, sondern auch auf den Boden, auf dem sie wuchsen und der sie in immer größerer Anzahl ausspuckte wie es Brecht ausgedrückt hatte. Das Hauptthema von uns war, besonders für die Menschen, die aus dem sozialen Bereich kamen, das Thema Arbeitslosigkeit, mit allen Facetten, die davon betroffen waren. Ich selber trug damals ein T-Shirt mit der Aufschrift „Die Würde des Menschen Ist antastbar“.

Es gab ja zwei Deutungsansätze zu diesem Thema: Zum einen den Ansatz, alles unter dem Primat des Freiheitsbegriffs zu sehen. Diese Sicht hatte den Blick auf die Gemeinschaft verloren. Auch der Begriff der Rechtsgleichheit und dessen praktische Umsetzung war schon damals, also vor der Agenda 2010, zur Farce verkommen. Die wirtschaftliche Ungleichheit hatte zwangsläufig dazu geführt.

Heute kennzeichnet diese Situation eine Aussage von Rolf Buch, dem Vorstandschef des größten Immobilienkonzerns Deutschlands, Vonovia: „Es gibt kein Gesetz, das sagt, mehr als 400.000 Wohnungen darfst du nicht haben.“ In unserem Büchner Projekt haben wir versucht, dem Rechnung zu tragen, indem wir den Aufruf Büchners und Weidigs im Hessischen Landboten umdrehten: “Krieg den Hütten – Friede den Palästen“.

Das beschrieb die reale Situation der Armen und Ausgegrenzten schon in der Gründungsphase der WALI besser, als der ursprüngliche Titel der Kampfschrift Büchners an die Bauern im Vogelsberg. Eine Alternative wäre das Primat der Gleichheit – gemeint ist hier die der Chancen- und Lebenschancengleichheit – gewesen und ist es heute noch.

Die WALI hat sich ja lange auch mit den Klassikern Goethe und Schiller befasst. Beide schreiben in den Xenien zur Würde des Menschen: „Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“ Das traf die Ansichten der WALI auf den Punkt und wir haben 30 Jahre eigentlich um die Auslegung der Möglichkeiten bundesrepublikanischer Politik gerungen und gekämpft, bis hinein in die letzten Durchführungsanweisungen zu verschiedenen Artikel des Arbeitsförderungsgesetztes.

Wann ging das konkret los? Anfang oder Mitte der Achtziger Jahre?

Von losen Zusammenkünften und dem Verfassen theoretischer Konzepte, bis zur Gründung, Finanzierung und professionellen Arbeitsaufnahme ist es doch noch ein langer Weg. Das ging schon in den siebziger Jahren los und fächerte sich dann, ähnlich noch den ganzen Auseinandersetzungen die die 68 Zeit betrafen, auf, in die verschiedenen „Fraktionen“ der Erwerbslosenbewegung dieser frühen Jahre.

Frank Bösch hat jetzt ein Buch veröffentlicht, das er „1979 – Zeitenwende“ nennt und darin heißt es in einer Buchbeschreibung: „Warum schien sich 1979 die Geschichte zu verdichten? Mit theoretischen Überlegungen dazu hält sich Bösch angenehm zurück. Er beschreibt aber nachvollziehbar, wie sich ausgehend vom Krisendiskurs der späten 70er-Jahre vielerorts der Wunsch nach radikaler Veränderung breitmachte: Das führte in Großbritannien zur Wahl von Margaret Thatcher mit ihren marktliberalen Ideen, in Deutschland zum Aufstieg der Grünen, die von einer ökologisch verträglichen Wirtschaft träumten. Zugleich entstand eine intensive Zusammenarbeit dieser Gruppen mit Kirchen und Gewerkschaften.“

Das führte aber auch zum Entstehen vieler kleiner Initiativen, die sich mit unterschiedlichsten Themen befassten. Am Rande sei hier gesagt, dass auch die Friedensbewegung aus einer solchen Haltung heraus entstanden ist.

Im Rahmen der Auseinandersetzungen mit den sozialen Fragen sei das „Sozialwort“ der beiden großen christlichen Kirchen erwähnt, dass in den 90er Jahren in beiden Konfessionen auf breiter Basis diskutiert wurde und das ich heute unter das kirchliche Motto „Die Armen zuerst“ einordnen würde.

Nach langer Diskussion war hier ein gutes Papier mit klarer Parteinahme für die Ausgegrenzten und Armen entstanden, mit dem bundesweit bis hinunter in die einzelnen Kirchengemeinden gearbeitet wurde. Zahllose Veranstaltungen zum Thema konnte ich selbst als Gast oder Referent verfolgen. Hier war aus kirchlicher Sicht eine echte Aufbruch Stimmung und viel Optimismus spürbar.

Waren die 68er Diskussionen noch ein wichtiges Thema?

In unseren Initiativen haben die Diskussionen überhaupt keine Rolle gespielt. Aus dieser Zeit kamen aber die unterschiedlichsten Sichtweisen. Die meisten von uns waren auch zu jung, um 68 dabei gewesen zu sein. Ich selber war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 14 Jahre und viele von meinem Jahrgang konnten mit dieser Bewegung nur wenig oder gar nichts anfangen.

Freilich wussten wir später, was ein Transparent oder ein Flugblatt ist, dann aber schon mit eigenen Inhalten. Wetzlar ist auch nicht studentisch geprägt, sondern definierte sich über die große Industrie und Optikbranche. Da spielten die Proteste an den Universitäten keine Rolle, und wurden – unverstanden – belächelt. Mit Buderus, Hensoldt oder Leica konnten die Menschen eher etwas anfangen.

Als ich 1989 in der WALI anfing, war ein Leitzianer in etwa im Ansehen eines hohen Beamten. Eine ganz andere Welt.

Die beiden Kirchen haben das Thema Arbeitslosigkeit sicherlich anders beleuchtet als die Gewerkschaften oder Menschen, die aus der autonomen Szene der 68er Bewegung kamen. Viele Ziele, die dort formuliert wurden, waren so unterschiedlich, wie diejenigen, die die Schirmherrschaft über die jeweilige Richtung übernommen hatten. Katholiken oder Vertreterinnen der evangelischen Kirche dachten anders als die IG Metall.

Und die Gewerkschaften dachten mit ihren Forderungen nach „Arbeitszeitverkürzung“ und „Arbeit für alle“ wieder anders als Menschen, die von der Uni kamen und arbeitslos waren und in die autonomen Szenen gingen und schon damals die Forderung nach einem Grundeinkommen gestellt haben: bedingungslos!

Es darf nicht vergessen werden, dass sich die kämpferischen Gewerkschaften flächendeckend mit Erfolgen durchsetzen konnten, und dass sie von vielen Kirchenvertretern dabei tatkräftig unterstützt wurden.

Wurde schon Mitte/Ende der Achtziger das Thema „bedingungsloses Grundeinkommen“ bei den autonomen Initiativen diskutiert und als Forderung formuliert?

Ja, schon Anfang der achtziger Jahre war das bedingungslose Grundeinkommen eine Forderung von Menschen, die der autonomen Szene etwas abgewinnen konnten, um einfach frei von Zwängen zu sein und eigenständig ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Denkweisen waren da völlig verschieden.

Die evangelische Kirche mit ihrem Arbeitsethos im Hintergrund hat da völlig anders gedacht, als die oben angesprochenen autonomen Szenen. Und in diesem Rahmen haben sich dann die Initiativen programmatisch in verschiedene Richtungen entwickelt. Nach einer gewissen Zeit bekam man ein Gefühl dafür, in welche Richtungen die jeweiligen Positionen gehen. In dieser Zeit haben sich auch immer wieder einzelne daran ergötzt, die nächste Schlacht zu schlagen. Ich habe sie für mich immer „die Seminartouristen“ genannt. Ohne einen Schuss Humor war manche dieser Veranstaltungen auch nicht durchzustehen.

Mir persönlich ist das damals schon vor Gründung der WALI auf den Wecker gegangen. Ich war damals Mitglied im Sprechergremium der hessischen Arbeitsloseninitiativen und mir fehlte der konkrete Bezug zu Menschen, die arbeitslos geworden waren und ganz andere Probleme mit sich herumschleppten. Das war für mich kein Widerspruch zum „Blick auf den Boden“ im Sinne von Brechts Gedicht.

Ganz im Gegenteil: In der Regel hielten sich viele der Betroffenen, aber auch die Familie oder der Freundeskreis, den Arbeitslosen für „selber schuld“ an seiner Situation. Da konnte ihnen ein Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ganz guttun. Ein Brecht Gedicht als Waffe gegen die (Eigen)-Stigmatisierung sozusagen.

Das Sprechergremium gab es schon vor der WALI? Hattest Du schon früher in Gremien mitgearbeitet?

Das Sprecherinnengremium auf Landesebene gab es schon früher. 1984 habe ich in Gießen die ALI mitgegründet. Und über meine Funktion als „ehrenamtlicher Funktionär“ in Gießen, wurde ich auch in diese landesweiten Gremien berufen. So wurde ich dann zu einem der Sprecher der hessischen Arbeitsloseninitiativen.

Ein Wort, über das man damals stundenlang hätte streiten können: Erwerbs- oder Arbeitsloseninitiativen?! Dass waren alles diese Stilblüten und Auseinandersetzungen, die man hätte über Monate führen können.

Natürlich trifft das Wort „erwerbslos“ den Kern des Problems besser, aber die Diskussion darüber brachte uns nicht weiter, solange sich die betroffenen Menschen vor Ort mit gesundheitlichen und finanziellen Problem herumschlagen mussten. Hohe Mieten, zum Teil Überschuldung, oder auch das Ringen um eine Qualifizierung und letztlich auch eine neue Berufsorientierung waren wichtiger, als akademische Gefechte, die irgendwo in Frankfurt geführt wurden. Diese Diskussionen mussten vor Ort ausgetragen werden und immer in Zusammenhang mit den realen Problemen der Menschen stehen.

Das Thema Einsamkeit kann ich nur annehmen, wenn ich mich mit den Betroffenen vor Ort zusammensetzte. Trotzdem haben wir in Gießen und in Wetzlar, aus diesen verschiedenen Richtungen, jeweils versucht, eine einzige Initiative zu gründen, formal mit einem eingetragenen Verein, um alle Richtungen unter einem Hut zu haben. Ziel war es, diese Diskussion zu führen, ohne diese ganzen Stilblüten und ewigen Begriffsstreitigkeiten, und diesen Initiativen zum Leben zu verhelfen, um damit praktisch den Menschen helfen zu können.

Was bedeutete das konkret: alle Richtungen unter einen Hut zu bekommen?

Wir hatten von Anfang an unterschiedliche Einzelgewerkschaften und den DGB, vor allem aber die IG Metall, vor Ort. Wir hatten interessierte Leute aber auch Funktionäre aus den einzelnen Kirchen – also z.B. Pastoralreferenten, aber auch einfache Mitglieder der Kirchen, die ehrenamtlich aktiv waren. Da war ein evangelischer Pfarrer ebenso dabei, wie hauptamtliche Gewerkschafter und Vertrauensleute aus den Betrieben. Im Vorstand der WALI waren aber immer die Betroffenen in der Mehrheit. Darauf legte man großen Wert zu dieser Zeit, als Erwerbslose selbst auf die Idee gekommen waren, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.

Und die Menschen dachten damals noch politischer und waren auch bereit, dafür aktiv einzutreten. Wir haben diese Diskussionen gemeinsam geführt. Uns ist es in der WALI – genauso wie in der Gießener ALI – gelungen, diese Debatte auch über die Jahrzehnte aufrecht zu erhalten.

Du hast von drei Richtungen gesprochen. Um welche handelt es sich genau?

Es gab die gewerkschaftliche und die kirchliche Richtung. Der dritte Impuls war der Autonome.

Spielte der autonome Ansatz im beschaulichen Mittelhessen überhaupt eine Rolle?

Die Marburger waren weitgehend der autonomen Szene anhängig. Die einzelnen Aktiven der verschiedenen Richtungen haben sich auch untereinander gekannt. Und persönlich teilweise auch gemocht. Wir hatten auch weitgehend die gleichen Themen und haben die – manchmal kontroverse Debatte – auch für wichtig erachtet.

In der konkreten Hilfestellung, z.B. in der Beratung von Betroffenen im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen, lagen wir ja nicht weit auseinander. Bis dann Forderungen gestellt wurden, wie Existenzgeld von 2000 Mark ohne irgendwelche Bedingungen. Nachdem dies auf einer Podiumsdiskussion gefallen war, die ich geleitet hatte, sagte ein Nebenmann, seines Zeichens Gewerkschaftsvertreter aus dem Vogelsberg: „Damit brauche ich meinen Leuten nicht zu kommen, dies bekomme ich nicht durch!“

Es gab hessenweite Debatten, Aktionen und Vernetzungen der Arbeitsloseninitiativen. Welchen Stellenwert hatten die hessischen Debatten im Wetzlarer Alltag?

In Wetzlar waren Inhalte aus der autonomen Richtung nicht stark vertreten. Es gab hier zwar das Hessenkolleg, in dem es durchaus Menschen gab, die sich auch für Standpunkte aus dem autonomen Spektrum interessierten. Und die gibt es heute noch, die mit einer Forderung nach einem Existenzgeld mehr anfangen können als mit der Forderung „Arbeit für alle“.

Es ist ja nicht schlecht, auch diese Perspektive gemeinsam zu diskutieren. Und man hat sich gegenseitig respektiert. So ist es möglich gewesen, dass die WALI über all die Jahre keine Spaltung erleben musste. Aber das kuriose war, als wir die Diskussionen führten, dass wir beschlossen, wir gründen eine Initiative, um das Ganze regelmäßig und tiefer besprechen zu können, was denn die idealen Forderungen seien, nach einer der ersten größeren Wirtschaftskrisen der Bundesrepublik, die sinnvollsten Sachen zu entwickeln, dass wir dann diese Initiativen gründeten: zuerst in Gießen, später in Wetzlar und auch die Erfahrungen hatten, von Kassel, von Frankfurt, von den anderen.

Direkt nach der Wende hat sich dann eine landesweite Initiative in Thüringen mit Beiräten in vielen Städten gegründet. Mit dieser Initiative haben wir dann bis heute eng zusammen gearbeitet. Das war in dem Moment, an dem wir sagten: wir treffen uns jetzt, einmal in der Woche, Donnerstagabend um 17 Uhr, um genau diese Sachen zu thematisieren. In diesem Zusammenhang bin ich zuerst als Vertreter der ALI in Gießen angefragt worden, ob ich das eine oder andere Mal als Referent tätig werden kann, aber auch im organisatorischen Bereich, z.B. bei der Erstellung einer Satzung oder anderen formalen Dingen, die geleistet werden mussten.

Bei Arbeitsloseninitiativen gab es die eine oder andere Sonderfrage. Man musste Jahreshauptversammlungen organisieren, sich um die Gemeinnützigkeit kümmern und anderes.

Das sind zwei Sachen, die parallel liefen: Interessierte Menschen, die sich für eine solche Initiative nicht zufällig begeisterten, sondern gebunden am Scheitern von Ideologien, wie die des Wirtschaftswunderlandes oder „es geht allen wunderbar“ und auf einmal sitzen Leute auf der Straße. Das war ja neu. Da war 68, dann kam die Ölkrise, Anfang der siebziger Jahre, dann ging das weiter und hat rückblickend das Land, seine Wirtschaft und damit auch solche Initiativen geprägt.

Wir hatten ja nicht zuerst die Idee, dass jetzt eine Wirtschaftskrise kommen müsste. Es lief ja anders herum. Die Krise war da und wir überlegten dann, was wir gegen die Auswirkungen machen könnten.

Neben den formalen Schwierigkeiten, die mit dem Feld der Vereinsgründung zu tun hatten, wurde auch unter den Initiativen eine Solidarität gelebt? Unterstützte man sich gegenseitig? Wurde eine gewisse praktische Solidarität gelebt?

Im Rahmen des Sprecherinnengremiums und den hessischen Vollversammlungen war es doch überwiegend die Solidarität (oder Nächstenliebe, wie es die Vertreter der Kirchen nannten), die den Rahmen der Diskussionen geprägt haben. Aber es ging auch hart zur Sache, wenn man dann streng durch deklinierte und die autonomen Kräfte dann Arbeit für alle unter diesem System nicht unbedingt für die beste aller Lösungen hielten.

Von dieser Seite kam oft die Kritik, dass man sich viel grundsätzlicher Gedanken machen müsste um gewisse Positionen, die von Kirchen und Gewerkschaften vertreten wurden. Der heutige Ansatz ist natürlich viel pragmatischer als die damalige Position, aber es wurde in den Grundzügen schon damals diskutiert.

Es wurde aber alles überrollt von einer ganz anderen Frage: Als wir dann beschlossen haben, wir treffen uns einmal die Woche und diskutieren die anstehenden gesellschaftlichen Fragen einmal ausführlich, da hatten die Kirchen und die Gewerkschaften ihre Vorstellungen.

Welche Treffen gab es damals? Nur in Wetzlar oder haben sich beide Initiativen – Gießen und Wetzlar – gemeinsam getroffen?

Beides gab es. Beides gab es parallel. Es gab mittlerweile in Gießen, in Marburg und in Wetzlar eine Initiative und es gab dieses landesweite Gremium mit seinen Vollversammlungen und dazu gab es noch die mittelhessischen Treffen von Erwerbsloseninitiativen.

Neben den drei oben genannten Städten gründeten sich auch mal was in Butzbach oder Friedberg. Es gab immer wieder Ansätze, auch in anderen mittelhessischen Städten, Initiativen aufzubauen. Der Hauptpunkt bestand darin, dass plötzlich 30 oder mehr Erwerbslose in der Tür standen und eine Beantwortung ihrer konkreten Frage einforderten.

Die regelmäßigen Treffen und einen kontroversen Austausch gab es zwar in allen Städten. Konkret in Wetzlar gab es eine Gruppe von jungen Frauen, die etwa Mitte der 80er Jahre eine Umschulung zur Schreinerinnen gemacht hatten und danach trotzdem arbeitslos waren. Dann hatten alle noch eine Zusatzausbildung gemacht und waren immer noch arbeitslos.

Es war also klar, was diese Frauen „wollten“. Sie wollten arbeiten und sie hatten diese Ausbildung gemacht, weil es angeblich Stellen in diesem Bereich gab. Und sie machten alle eine Erfahrung, die Erfahrung der Wirtschaftskrise. Sie kamen alle aus unterschiedlichsten Erfahrungshorizonten, und alle dachten: es muss jetzt was passieren, wir nehmen unsere Erfahrungen mal in die eigenen Hände. Das in die eigenen Hände zu nehmen endete damit, dass sie zur Gewerkschaft gelaufen sind, dass sie zu kirchlichen Stellen gegangen sind – da gab es ja auch zuständige Stellen, wie Bildungswerke oder zuständige Postoralreferenten – oben im Haus Gertrudis gab es explizit Stellen, die sich mit Arbeitslosigkeit auseinander gesetzt haben.

Andere Orte und Stellen waren die der evangelischen Kirche oder sie waren bei den Gewerkschaften festgemacht. Und die oben genannten Personen und Gruppen sind alle von ihnen – den Umschülerinnen – angesprochen worden.

Die IG Metall hatte ein ganz großes Interesse, da sie sich immer wieder mit Themen wir Entlassungen/ Nichtentlassungen oder alternativen Produktionsfeldern auseinandersetzten und ihre Leute beraten hatten, wenn diese arbeitslos wurden. Eine wichtige Rolle spielte dabei die TBS, die Technologie Beratungsstelle, die sich schon früh mit alternativen Produktionsfeldern auseinander gesetzt hatte.

Alle gewerkschaftlichen Stellen hatten ein großes Interesse, als die Frauen ihre Forderungen stellten, die bisherigen Antworten zu Arbeitslosigkeit nochmal zu überdenken und organisiert, jenseits ihrer eigenen Organisationen, eine Initiative zu begleiten und zu unterstützen, die sich jetzt professioneller um alle diese Fragen kümmern kann. Da lag das Interesse.

Und auch die Gewerkschafter, die Mitte/Ende der Achtziger Jahre über solche Themen diskutiert haben, kamen auch aus dem letzten Jahrhundert. Die Gewerkschaften haben damals noch völlig anders getickt.

Gab es denn schon einen großen Erfahrungsschatz zum Thema Arbeitslosigkeit? Als relativ junger Betrachter schaut man doch auf Tarifabschlüsse von 7 Prozent oder so aus den Siebzigern und kann sich gar nicht vorstellen, dass Arbeitslosigkeit ein relevantes Thema war?

Es gab einen bestimmten Automatismus zum Thema Lohn, solange es etwas zu verteilen gab. Das Problem für die Gewerkschaften beginnt da, wo der Verteilungsspielraum, aus Sicht von oben, an seine Grenzen stößt. Wo es auf einmal nicht mehr „nur“ 100.000 Arbeitslose gab, sondern eine Million. Wo die Fragen in der Selbstverwaltung, in der die Gewerkschaft ja drinsitzt, dann auch im Rahmen von verschiedenen Programmen, z.B. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, inhaltlich diskutiert werden musste, um Alternativen zur Arbeitslosigkeit zu entwickeln.

Alles dies ist ja dort entstanden. Und dort war auch der Startpunkt für eine positive Entwicklung in Richtung solcher Gründungen von Erwerbsloseninitiativen, die dann aber auch wieder politisch ungebunden, aber auch wieder von ihren Zielen her den Gewerkschaften relativ nahe standen, was nicht bedeutet, dass es z.B. bei der WALI durchaus Leute gab, denen das Grundeinkommen näher stand und dies auf Jahreshauptversammlungen auch so formuliert haben.

Es führte halt nie zu diesem Bruch, man konnte es in der Initiative über dreißig Jahre so halten und diskutieren. Während natürlich die Kirche von oben her ihre eigene Sicht der Dinge hatte, die Gewerkschaften ähnlich verfahren sind und genauso die Leute, die von den Unis kamen, in ihren autonomen Zirkeln. Das war ja ein entscheidender Punkt, dass wir gesagt haben in Gießen und in Wetzlar, wir versuchen es hier mal zusammen: Wir leben hier nicht in einem Einzugsgebiet wie dem Rhein-Main-Gebiet, wo Millionen Menschen leben. Wir sind ein überschaubares Städtchen, in denen es vielleicht über 100 Menschen interessiert, wir versuchen es einfach mal gemeinsam zu diskutieren und drücken ein Auge zu, wenn der eine von Solidarität und der andere von Nächstenliebe spricht.

Wir haben natürlich trotzdem inhaltlich stringent an so einem Thema weiter gearbeitet.

Jetzt weiß ich von Dir, dass Du deine eigenen Quellen gehabt hast, deine eigenen Kontexte, in denen Du dich politisch sozialisiert hast. Für mich klingt es, als hättest Du eine Art Mediator- und Vermittlerrolle inne gehabt. Ziel war es doch sicherlich, wie es jetzt herausklingt, die unterschiedlichsten Gruppen an einem Tisch zu behalten. Was war Deine Rolle in dem Prozess?

Es gab sicherlich Gründe, die in meiner persönlichen Entwicklung zu suchen sind, aber ich war schon immer mehr der Vermittler und Mediator in solchen Diskussionen, als jemand, der jetzt eine bestimmte Position lautstark favorisiert hätte, auf Kosten der Aufkündigung dieses Bündnisses.

Gab es mal Zeiten, Zäsuren oder Schnittpunkte, an denen die Gefahr bestand, dass sich das Bündnis aufkündigt?

Dieses Bündnis war nie gefährdet. Eine ganz frühe Diskussion, die wir geführt haben – wir haben ja schon ausgegrenzt – hatte unter dem Gesichtspunkt, wer da mitmachen kann, immer die klare Meinung: alle, außer Neonazis. Das war der erste politische Beschluss der WALI.

Auch da gab es vor dieser Zeit die NPD in vielen Landesparlamenten, bei den Bundestagswahlen scheiterten sie allerdings. Ein zweiter Aspekt: die WALI wollte grundsätzlich parteipolitisch unabhängig bleiben. Auch das ist über 30 Jahre nie in Frage gestellt worden.

Wie ging es dann weiter über die ersten Schritte einer Initiative hinaus? Vom geschilderten zur WALI von heute ist doch ein langer Weg.

Zunächst einmal begann alles mit einer Zeitungsannonce der WALI, in der alle Betroffenen aus dem Lahn-Dill-Kreis aufgefordert wurden, sich an der Arbeit der Initiative zu beteiligen und zu einem bestimmten Treffen eingeladen wurden. Mit konkretem Ort, mit einem Zeitpunkt und einem Thema.

Was soll ich sagen, der Laden war völlig belegt. Und doch verlief der Abend anders als geplant. Die Menschen wollten nicht unbedingt in der WALI mitarbeiten, sondern sie hatten jeweils ihre eigenen Probleme und Fragen.

Um welche Probleme ging es dabei. Kannst du das konkretisieren?

Es ging im Wesentlichen um Fragen der Existenz, um die Höhe von Arbeitslosengeld oder -hilfe, es ging um das Formulieren von Widersprüchen, es ging darum, so schnell wie möglich eine Arbeit zu finden, aber auch damals schon um Fragen der Gesundheit, aber auch von Ängsten und Suchtproblemen oder dem Schreiben von Bewerbungen. Aber auch Schulden spielten eine große Rolle.

Die Fragen also, die konkrete Hilfen einforderten und meilenweit weg waren von den politischen Diskussionen der Initiative. Es ging aber auch um Fragen nach einem Treffpunkt für Erwerbslose mit Preisen, die es möglich machten dort hinzugehen und einen Kaffee zu trinken. Viele hatten ja durch die Arbeitslosigkeit alte Freunde verloren, weil es ihnen finanziell nicht mehr möglich war, das alte Leben so einfach fort zu setzen. Andere waren einfach nur einsam oder kamen mit sozialen Phobien belastet. Hier halfen zunächst keine langfristigen Strategien, sondern hier waren konkrete Hilfen nötig.

Die WALI hatte sich als Modellprojekt im sogenannten Langzeitarbeitslosenprogramm der Bundesregierung beworben und so die Finanzierung für die ersten Jahre ihrer Existenz sichergestellt. Ihre Alltagsarbeit bestand in Beratungen von Erwerbslosen, in einem Fortbildungsangebot (z.B. Computerkurse) und im Betrieb eines Arbeitslosencafés, in dem mittags auch gekocht wurde. Aber auch die ersten Kreativkurse gehörten zum Programm.

Was habt ihr in diesen ersten Jahren an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen umgesetzt? Und vor allem für wen? Was war die Zielgruppe?

Die Maßnahmen und Ergebnisse 1989-1997 lassen sich wie folgt kurz skizzieren: Die WALI hat in dieser Zeit mit ihren Projekten einen vorgelagerten arbeitsmarktpolitischen Ansatz realisiert: Treffpunkt für Arbeitslose, Beratung, Kursangebote mit Qualifizierungsanteilen (z.B. Computer[1]Kurse).

Zwischen 1990 und 1997 stellten die Kreativkurse der WALI ein Angebot unter vielen dar. Es war die Zeit, in der in kleinem Rahmen gewirkt, in der Geschichte geschrieben und gemalt wurde. Kleinere Ausstellungen und Lesungen wurden organisiert. Kreativ-Kurse stellten eine Ergänzung zu anderen Angeboten dar.

Die Programme der Bundesregierung wurden von Prof. Dr. Alfons Schmid u.a. vom Institut für Polytechnik und Arbeitslehre an der Universität Frankfurt a.M. wissenschaftlich begleitet. Sie stellten schon Anfang der 90er Jahre fest, dass das Programm einen Selektionseffekt bewirkt hat: „In Arbeit vermittelt wurden überproportional die Langzeit Arbeitslosen, die wenig oder keine vermittlungshemmenden Merkmale außer der Langzeitarbeitslosigkeit selber haben.“ (WSI Mitteilungen, 7/92, Seite: 456)

Vorgelagerte arbeitsmarktpolitische Angebote waren also notwendig. Nach den Erfahrungen in der WALI standen 30% Langzeitarbeitslose für den Ersten, 20% der Betroffenen dem öffentlich finanzierten Arbeitsmarkt zur Verfügung. 50% der Betroffenen hatten ohne entsprechende Hilfsprojekte keinerlei Chancen auf einen Arbeitsplatz.

Schon 1994 hatte Herbert Schneider, Nürnberg, in der Zeitschrift „Arbeit und Beruf“ (1/94) einen Artikel auch zur Auswertung des BHi Programms mit dem Titel „Ein neues AFG-Instrument: Der Arbeitsförderbetrieb“ veröffentlicht, in dem es hieß: „Es hat sich in der Praxis gezeigt, dass es sich lohnt, vor der Einleitung von Bildungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die eigentlichen Ursachen von Arbeitslosigkeit festzustellen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine ordentliche Beschäftigung oder berufliche Qualifizierung überhaupt möglich ist. Stimmen die Rahmenbedingungen (z.B. Unterbringung, Finanzsituation und sonstige persönliche Verhältnisse) nicht, verfehlen noch so gut angelegte Maßnahmen in der Regel ihr Ziel. Das zeigen die zahlreichen Abbrüche von Teilnehmern an beruflichen Bildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Wird vorher nicht festgestellt, ob die Maßnahme für den Teilnehmer – und der Teilnehmer für die Maßnahme – geeignet ist, ist der Misserfolg vorprogrammiert.“

So wie sich das anhört, ging es seit Mitte der 90er Jahre dann doch mehr und mehr um arbeitsmarktpolitische Fragen?

Ja, das kann man so sagen und es machte ja auch Sinn. Erstens hatten wir eine Menge eigener Erfahrungen gesammelt, die uns an der Politik der Bundesregierung zweifeln ließen. Es war die Zeit der ersten Welle der Streichungen und der großen Einschnitte in der Arbeitsmarktpolitik.

Sicherlich hat das u.a. auch dazu beigetragen, dass es 1998 zur Abwahl von Kohl und zu einer anderen Regierung bei den Bundestagswahlen geführt hat. Die Initiativen orientierten sich damals an den Aktionen der Aktivisten aus Frankreich, die sich gegen alle Maßnahmen im Rahmen des Abbaus des Sozialstaates zur Wehr setzten.

Zweitens machte sich Angst breit bei Erwerbslosen und Beschäftigten, die sich mit Thesen verschiedener wissenschaftlicher Bücher auseinander setzen, die Thesen vertraten, dass damit zu rechnen sei, dass weltweit mit dem Wegbrechen von 80% der Industriearbeitsplätze durch die Entwicklung der Digitalisierung zu rechnen sei. Jeremy Rifkin hat es geschrieben und ihm den Titel „Das Ende der Arbeit“ gegeben. Es ist erstmals 1995 erschienen und versucht schon in der Einleitung klar zu machen, dass keine leichten Zeiten vor uns liegen.

Die arbeitssparendenden Technologien werden Millionen Menschen an den Rand drängen, sie werden der dritten industriellen Revolution unbarmherzig zum Opfer fallen. Dem Kapitel über die psychischen und physischen Folgen der Arbeitslosigkeit in den USA gibt Rifkin den Titel: „Ein langsamer Tod“.

Darin lässt er einen ehemaligen Manager zu Wort kommen, der seine Lage so schildert: „Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man arbeitet jeden Tag seine acht Stunden und hat seinen Jahresurlaub – oder man ist tot! Dazwischen gibt es nichts (…) Arbeiten heißt atmen. Man denkt nicht drüber nach, man macht es, und es hält einen am Leben. Wenn man damit aufhört, stirbt man.“

Darüber hinaus stellt Rifkin fest, dass der Marktwert der menschlichen Arbeit weiter sinken wird und „sich die Arbeitnehmerschaft ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihres Selbstverständnisses beraubt“ sieht. Aufgrund der multinationalen Verflechtungen der Unternehmen verliert die staatliche Politik an Bedeutung. Alte Gesellschaftsverträge werden aufgekündigt oder Schritt für Schritt abgebaut. Weder Wirtschaft noch Staat sind bereit, die wichtigsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen.

Rifkin beschreibt die ökonomischen Tendenzen und globalen Prozesse der Gegenwart. Er diagnostiziert eine weitere weltweite Spaltung in Reichtum und Armut. Er prophezeit die Ausgrenzung von Millionen und Abermillionen Menschen aus dem Produktionsprozess und damit auch aus der Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum.

Drittens hatten wir den begründeten Eindruck, dass die Politik dem ganzen tatenlos zusah und eine damals diskutierte 2/3 Gesellschaft billigend in Kauf nahm. Wir setzten uns damit politisch, aber auch auf kulturellem Gebiet auseinander.

Dazu ein Beispiel: Der französische Maler Theodore Gericault hat in den Jahren 1817/19 ein 5 mal sieben Meter großes Bild gemalt, das eine Schiffstragödie aus der damaligen Zeit darstellt. Das Riesengemälde hängt im Louvre in Paris und trägt den Titel „Das Floß der Medusa“. Man kann das „Floß der Medusa“ als Sinnbild eines Lebenszustandes derjenigen sehen, die durch jene von Rifkin beschriebenen Entwicklungen ausgegrenzt und ausgestoßen werden. Schiffbrüchige auch im übertragenen Sinne. Das Thema dieses Bildes war schon zur damaligen Zeit der etablierten Gesellschaft ein Dorn im Auge gewesen, weil es Korruption und Selbstsucht der Herrschenden anprangerte.

Was war geschehen? Peter Weiß schreibt dazu in seiner „Ästhetik des Widerstands“: „Am zweiten Juli Achtzehnhundert Sechzehn war, durch Unfähigkeit des Kommandanten und Fahrlässigkeit der Marinebehörden, die Medusa, das Flaggschiff eines französischen Flottenverbands auf dem Weg nach Senegal, in der Nähe von Cap Blanc auf Grund gelaufen. Von den etwa dreihundert Kolonialsoldaten und Siedlern an Bord konnten die Rettungsboote kaum die Hälfte fassen. Der Kapitän, die höheren Offiziere und einflussreichen Passagiere nahmen mit Gewalt Besitz von den Booten. Auf einem Floß, notdürftig aus Bohlen und Maststücken erbaut, drängten sich die übrigen Schiffbrüchigen zusammen.

Die Rettungsboote sollten das Floß ziehen, beim aufkommenden Sturm aber wurden die Taue gekappt, das Floß trieb ab, und von den hundertfünfzig Menschen, die dort, verhungernd, verdurstend gegeneinander kämpften, waren nach zwölf Tagen noch fünfzehn am Leben.“

Diese Szene floss später direkt in eines unserer Theaterprojekte ein. Zudem erschien damals ein Buch mit dem Titel die “Globalisierungsfalle“ (Hans – Peter Martin, Harald Schumann, Hamburg 1997), das viele von uns gelesen haben.

Es war von zwei Spiegelredakteuren geschrieben, die sich mit einem dieser Treffen in San Francisco auseinander gesetzt hatten. Andere dieser Treffen fanden später regelmäßig in Davos statt, einem Schweizer Städtchen für die zumeist Superreichen der Welt. Bei diesen Treffen kommt die Elite der Welt zusammen und bespricht unter sich die Zukunft der Menschheit.

Einen Ausschnitt daraus habe ich mir aufgeschrieben und kann es deshalb heute noch zitieren. Schon im Einband heißt es dort: „Drei aufwühlende Herbsttage in San Francisco, Ende September 1995: Die Machtelite der Welt, 500 führende Politiker, Konzernchefs und Wissenschaftler, diskutieren hinter verschlossenen Türen das 21. Jahrhundert. Die Einschätzung der Weltenlenker ist verheerend: Nur mehr ein Fünftel aller Arbeitsplätze werde in Zukunft benötigt. Der überwältigende Rest – 80 Prozent – müsse mit „tittytainment“ bei Laune gehalten werden, einer Mischung aus Entertainment und Ernährung am Busen („tits“) der wenigen Produktiven.“ Toastbrot und Seifenopern als Vision.

Wer das so mitmachen wollte, sollte es tun. In die Arbeit unserer Initiativen passte dies als Programm und Zukunftsaussicht nicht. Kochen konnten wir selber und auf das von den Eliten ausgesuchte Entertainment konnten wir verzichten. Dann doch lieber eigene Tätigkeitsfelder entwickeln und auf die eigene Kultur, aber auch auf die eigene Kreativität besinnen.

Welche Veränderungen in der Arbeit der WALI hatte das zur Folge?

Zunächst einmal gab es den Willen beim Vorstand der WALI, aber auch bei den Mitarbeitern und den Betroffenen, die arbeitsmarktpolitischen Hilfen für Arbeitslose fort zu setzen. Andererseits liefen die Bundesprogramme zur Finanzierung der Initiativen ersatzlos aus. Es begann damals das große Sterben von Beratungsstellen und Erwerbsloseninitiativen.

Alles was verschiedene Wissenschaftler in den Jahren zuvor voraus gesagt hatten, trat ein. Ausgegrenzt wurden jetzt nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch den Zusammenschlüssen der Betroffenen wurde der Hahn zugedreht.

Das war 1997, ein Jahr vor den Bundestagswahlen, worauf es bundesweit zu den oben beschriebenen Aktionen kam. Die WALI konnte ihre Arbeit danach nur noch auf ehrenamtlicher Basis fortsetzen, obwohl noch geringe Mittel von Stadt, Kreis und dem Land Hessen zur Verfügung standen.

Das Land Hessen hat später dann auch eine Kürzung mit einem Volumen von einer Mrd. durchgezogen und die Stadt Wetzlar erklärte später mit Einführung von Hartz IV die Arbeitsmarktpolitik zur Bundesangelegenheit und strich die Zuschüsse an die WALI.

Wie hat die Arbeit unter diesen Bedingungen konkret ausgesehen?

Die Beratungen und verschiedene Kurse wurden fortgesetzt, aber wir mussten uns überlegen, wie wir diesen Zustand verändern können. Zunächst aber entwickelten wir damals für die WALI das Konzept „Wege in und Wege aus der Arbeitslosigkeit“.

Schritte zur Entwicklung eigener Kulturarbeit wurden entwickelt und die ersten Ideen zur Gestaltung eigener Gärten, um zwei Projektideen zu nennen, die später auch nachhaltig realisiert wurden. Dazu kamen die dringend notwendigen Gesundheits- und Suchtprojekte, die sich aus den täglichen Erfahrungen im Alltagsleben der WALI ergaben.

Aber für Mietzahlungen und Sachmittel brauchte die Initiative dringend Geld, um auch eine ehrenamtliche Arbeit umsetzten zu können. Ein oder zwei Jahre zuvor hatte eine neue Kollegin in der WALI angefangen zu arbeiten, die sich als Sozialarbeiterin noch zusätzlich zum Themenfeld Öffentlichkeitsarbeit fortgebildet hatte. Das war natürlich für den Verein ein großer Gewinn.

Martina Opel schrieb damals ein Konzept für eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Die zweite Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung der Probleme war, dass sich die Gesellschaft verändert hatte. Der WALI wurde mittlerweile mit sehr viel Sympathie begegnet.

Auf was führst du diese Veränderung zurück. Die konkrete Arbeit mit Arbeitslosen kann es ja nicht allein gewesen sein?

Fast überall, wo wir hinkamen, wurden wir freundlich aufgenommen. Das war 1989 noch anders. Zum einen hatten wir uns ein breites Netzwerk aufgebaut und das auch regelmäßig gepflegt, wie z.B. durch Besuche als Referentin oder Referent bei Kirchen und Gewerkschaften.

Zum anderen – und das scheint mir sehr wichtig zu sein – waren viele Menschen direkt oder indirekt vom Thema Arbeitslosigkeit betroffen, sei es, dass ein Mitglied der Familie selbst erwerbslos geworden war, sei es, dass ein Kind keine Ausbildungsstelle gefunden hatte oder auch, dass der strukturelle Umbruch im wirtschaftlichen Bereich zu vorher nicht gekannten Ängsten und Befürchtungen auch bei Berufstätigen geführt hatte.

Jahre zuvor war das noch einfacher gewesen. Da half es sich einzureden, dass Arbeitslose selber schuld an ihrer Situation seien. „Die sind unmotiviert und faul.“ Und im Hinterkopf drehte man das Ganze einfach um und redete sich ein, dass man selber ja nicht faul sei und deshalb auch die Arbeit nicht verlieren könne. Das war die alte Selbstverschuldungsthese.

Jetzt stellte sich aber heraus, dass das im Großen und Ganzen nur Propaganda war und dass die Ursachen der Arbeitslosigkeit viel tiefer lagen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die wirtschaftlichen Umbrüche eine viel größere Rolle spielten, als geglaubt. Und die Betroffenen waren nicht mehr einer anonymen Masse zugehörig, sondern es ging um Familienmitglieder, um Nachbarn oder Bekannte aus dem Sportverein.

Was habt ihr damals konkret unternommen, um das Problem einer fehlenden finanziellen Unterstützung zu lösen?

Wir organisierten ein großes Konzert im Wetzlarer Rosengärtchen mit der damals sehr bekannten Mundartgruppe Fäagmehl. Wir konnten Sponsoren wie die WNZ und die Werbeagentur Grips Design gewinnen, die uns dabei unterstützten. Das Thema Sponsoring mit all dem für und wider wurde breit diskutiert.

Zum Schluss unterstützen uns sehr viele kleine und mittlere Unternehmen aus der Region. Die Großen hielten sich da fein raus und arbeiteten an der Globalisierung. Und das wichtigste: Über 40 Arbeitslose aus der Region organisierten mit uns gemeinsam dieses doch für uns große Projekt, das von 1500 Menschen besucht wurde. Wir arbeiteten damals zum ersten Mal wie eine kleine Firma mit all ihren Aufgabenbereichen: Öffentlichkeitsarbeit, Catering, Auf- und Abbau, das Bedrucken von Werbematerialien usw.

Damals entstanden die ersten Ideen für unsere spätere Projektarbeit. Fazit war, dass am Ende die Miete bezahlt werden konnte und auch finanzielle Mittel für die Sachkosten zur Verfügung standen. Und vor allem, dass sich die 40 beteiligten Arbeitslosen in Puncto Selbstbewusstsein und Auftreten viel mehr entwickelt hatten, als in den Kursen in den ersten Jahren.

Ab 1997 gehörten öffentliche Präsentationen zum Standardprogramm der WALI. Sie gehörten quasi zum arbeitsmarktpolitischen Konzept der WALI. Zum Leitbild des Vereins gehörte nun auch, dass man Kultur und Soziales gemeinsam mit Kooperationspartnern und Sponsoren präsentieren wollte und dass man die Projekte in größere Zusammenhänge stellte. Wichtig: Ein Motto aussuchen, das in der Region oder in anderem Zusammenhang in der Öffentlichkeit schon präsent ist. Beispiel: Goethe Sommer in Wetzlar.

Und ganz wichtig: Zu Beginn jedes Projektes bietet es sich an, die Frage zu klären, die wir die Sinnfrage nennen: Die Teilnehmer sollten inhaltlich hinter dem Projekt stehen. 1997 gab es so die erste größere Präsentation im Rahmen der Wetzlarer Kultur Wochen. 1998 folgte die o.g. Konzertveranstaltung mit 1500 Gästen im Rosengärtchen.

Es folgten weitere eigenständige Kulturprojekte, die mit Hilfe von Kooperationspartnern realisiert wurden und die alle in größeren Zusammenhängen umgesetzt und öffentlich präsentiert wurden: Seit 1997/98 bewegen wir uns in einem neuen Koordinatensystem.

Wir organisieren größere Veranstaltungen im Rahmen unseres Leitbildes „Kultur und Soziales gemeinsam präsentieren“. Höhepunkte waren das „Fäägmeel Konzert 1998 und die Beteiligung am Wetzlarer Goethe Sommer mit eigenem Programm 1999, ein Film Projekt 2000 und die Aktionen mit dem Großbild „Gegen Fremdenfeindlichkeit und rechte Gewalt“ 2000/2001.

Ein Jahr später beschäftigten wir uns mit der alten Wetzlarer Figur, dem falschen Kaiser Tile Kolup. Eine Idee von älteren Wetzlarern, die diesen Kolup mit Hilfe unserer Kulturprojekte vor dem Vergessen retten wollten. Ein Schaupiel über Tile Kolup, ein Zusammentreffen mit Charlotte Buff im Lotte Jahr und ein Denkmal im Zentrum für Hightech und Kultur waren die Ergebnisse unseres Engagements.

Ein Wort noch zu unserem Goethe Projekt, für das wir den Schauspieler und Regisseur Erich Schaffner gewinnen konnten. Er, der noch heute die Schauspielgruppe der WALI anleitet, war für unsere Initiative ein Glücksgriff, weil er eine grundsätzliche positive Grundhaltung zu Erwerbslosen hatte und weil er über den Einzelnen hinaus auch in gesellschaftlichen Kategorien dachte und zudem eine hohe Fachkompetenz mitbrachte, die er mit dem Faktor Geduld zu verbinden in der Lage war.

Die öffentliche Resonanz auf unsere verschiedenen Projekte war jedenfalls so groß und die Arbeit so erfolgreich, dass später dann zwei ABM Stellen für das Personal geschaffen werden konnten.

Welche Rolle hat die Auseinandersetzung mit Politik gespielt für die Entwicklung der WALI als Träger in den letzten 30 Jahren? Wie wichtig war es, politische Ereignisse zu verfolgen? Partei zu ergreifen?

Im Goethe Projekt z.B. wollten wir einen Goethe von unten zeigen. Im Gegensatz zu den in der Stadt schon geplanten 70 Veranstaltungen sollte sich unser Goethe klar definieren. Zu unserer Veranstaltung im Lottehof kamen 800 Besucherinnen und Besucher und wir stellten unser Projekt später im Thüringer Landtag vor und besuchten auf Einladung der Thüringer Arbeitsloseninitiative die Goethestadt Weimar.

Ein Gastspiel in Offenbach, dem DGB in Frankfurt und beim Hessenkolleg in Wetzlar sollten folgen. Eine Ausstellung des Goetheprojekts im Herkules Center rundete die Öffentlichkeitsarbeit zum Goethe Projekt ab. Der Titel, den wir unserem Projekt gaben, stammt aus dem Wilhelm Meister und lautete: Die Bestimmung des Menschen ist Tätigkeit. Wenn Goethe, den sie alle in Wetzlar verehrten, einen solchen Satz sagt, dann war unser Projekt auch als politische Anklage gegen die politischen Verhältnisse in unseren Land zu verstehen, denn diese Maßgabe Goethes wurde doch auf breiter Ebene missachtet.

Hans Mayer, einer der ganz großen Literaturkritiker seiner Zeit, äußerte sich in einem Fernsehinterview wie folgt zur gesellschaftlichen Situation im Land: Er bringt das Beispiel der drei Feen, die dem Menschen Freiheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit wünschen. Die 4.Fee, die böse, grenzt ein und sagt: Immer nur zwei dieser drei Wünsche können in Erfüllung gehen.

Noch ein Wort bitte zu den Gesundheitsprojekten der WALI?

Vorweg eine kleine Geschichte, die ich seit dieser Zeit nicht vergessen habe: Sie verdeutlicht die Hetze und den Stress, aber auch die krankmachenden Verhältnisse und den Umgang damit in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, vor allen bei denen, die sich dem täglichen Druck am Arbeitsplatz ausgesetzt sahen, aber auch bei denen, die der Arbeitsmarkt schon ausgespuckt hatte.

Diese Geschichte verdeutlicht genau, wie sich die Verhältnisse in den letzten Jahren verändert hatten und wie es sich anfühlte, dem ausgesetzt zu sein. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hatte sich von 1990 bis 1999 von 1.684.000 auf 5 Millionen erhöht. In der gleichen Zeit hatten sich die Werte der DAX Konzerne in ähnlichem Tempo erhöht.

Der Druck auf die einzelnen Beschäftigten hatte sich enorm erhöht, ohne dass man hätte sagen können, dass sich die Werte in der Realwirtschaft in gleicher Weise verändert hätten. Die Menschen passten sich an und versuchten durchzuhalten. In diesem Zusammenhang jetzt die Geschichte aus einem anderen Kulturkreis.

Während einer Supervision des WALI-Teams in Gießen erzählte der Supervisor von einem Wim Wenders Film, der 1995 in Lich im Kino Traumstern gezeigt wurde. Dieser Film spielte in Südamerika. Dort hatten sich Westeuropäer, aus welchem Grund auch immer, auf einen langen Weg in die Berge begeben. Ortsansässige Indianer, die sie angeheuert hatten, trugen ihnen auf diesem beschwerlichen Marsch in die Höhen der Anden die schweren Lasten und die Europäer gaben das Tempo vor.

Nach einem tagelangen, Kräfte raubenden Fußmarsch blieben die Indianer plötzlich stehen und verweigerten nonverbal den Weitermarsch. Weitere Tage vergingen. Erst dann hatten die Europäer das Gefühl, die Indianer ansprechen zu können und fragten nach dem Grund der langen Rast. Die Indianer erklären sich: „Unsere Seelen kamen nicht mit.“

Diejenigen der 5 Mio. Langzeitarbeitslosen, die noch mit mehreren entwicklungshemmenden Kriterien (Behinderung, keine Ausbildung usw.) geschlagen waren, machten auch oft den Eindruck, als sei ihnen etwas verloren gegangen. Das waren (und sind es heute noch) diejenigen, die sich von der WALI Hilfe erhofften.

Zum anderen veröffentlichte die GEK 1999 erstmalig einen Gesundheitsreport mit dem Schwerpunkt Arbeitslosigkeit und Gesundheit, ein bis dahin nicht intensiv erforschter Bereich. Der Bericht stellte einen sehr hohen Zusammenhang und eine sichtbare Wechselwirkung zwischen Langzeitarbeitslosigkeit und der Alkohol- und Drogenproblematik her.

Festgemacht wurde dies vor allem an stationären Leistungstagen an Fachkliniken. Extrem hoch war auch die Mortalitätsrate, also die Sterberate bei den Personen, die mehr als zwei Jahre arbeitslos waren. Und hier am Rande die Nachrichten der Kirchen in HR1 aus dem Jahre 1999. „In Berlin werden ein Drittel aller Bestattungen anonym durchgeführt.“ Für uns stellte die Studie, aber auch diese Nachricht aus Berlin eine außerordentliche gesellschaftliche Herausforderung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dar.

Wir haben dann eine Gesundheitskonferenz mit vielen Fachleuten (Gesundheitsamt, Arbeitsamtsarzt, Psychologen, Fachkräfte aus anderen Einrichtungen) zum Thema durchgeführt und wenig später eine Gesundheitsbroschüre veröffentlicht, die über unsre konkreten Angebote den Betroffenen Hilfestellung gab.

Für Interessierte ist diese Veröffentlichung heute noch in geringer Anzahl vorhanden. Vor allem wurde ein Bezug von Arbeitslosigkeit und Krankheit hergestellt, bzw. es wurden Wege aufgezeigt, diesem Teufelskreislauf zu entkommen. Es ging darum, den Regiesessel des eigenen Lebens wieder selber zu besetzen, wie es der damalige Leiter des Gesundheitsamtes, Helmut Schulz, formulierte.

Zahllose Projekte und Beratungen sollten, aufbauend auf diesen Erkenntnissen in den nächsten Jahren folgen. Ein praxisnahes Netzwerk mit Beratungsstellen, Hausärzten und z.B. Fachkliniken wurde aufgebaut, um die Arbeit mit den Suchtkranken effizienter zu gestalten. Später kamen Träger, übergreifende Arbeitsgruppen, Bündnisse und Fachtagungen hinzu.

Inzwischen hat sich die Lage noch viel weiter verschärft. Aus einer Aktuellen Studie der GEK geht hervor, dass sich die Zahl der Beschäftigten, die an seelischen Erkrankungen leiden, verdreifacht hat. Ich erinnere an die kleine Geschichte der Einheimischen aus den Anden, die sagten, dass ihre Seelen nicht mehr mitkämen. Jetzt stell dir heute einen Angestellten von Amazon vor, der sich so verhält. Der wäre 5 Minuten später schon auf dem Weg, sich die Papiere abzuholen.

Wie war euer Umgang mit dem stärker werdenden Rechtsradikalismus?

Ich habe vorhin schon einmal gesagt, dass es von der Gründung der Initiative an ein Anliegen der WALI war, Gesicht zu zeigen gegen rechtes Gedankengut, gegen rechte Gewalt und Organisationsstrukturen. Ein Höhepunkt war sicherlich eine Großveranstaltung in Ehringshausen am 24. November 2000 mit dem Hauptredner Dr. Michel Friedman, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden Deutschlands.

Organisiert hatte diese Veranstaltung ein Bündnis, dem auch die WALI beigetreten war und die sich mit einem 10 Meter langen und 2 Meter hohen Bühnenbild daran beteiligte. Zu dieser Bündnisveranstaltung kamen 1000 Menschen ins Bürgerhaus und für weitere 1000 Besucher und Interessierte wurde die Veranstaltung in den Außen-Hof übertragen.

Es ging dabei gegen die Umtriebe der NPD in Ehringshausen und viele der Besucher im Hof hatten erst kurzfristig aus dem Radio von unserer Aktion erfahren. Eine alte Ehringshäuser Bürgerin sagte: Endlich tut mal jemand was gegen die. Sonst ist man ja immer allein. So weit zu dieser Übergangsphase, die ihren Abschluss in der neuen Sozialpolitik von SPD und Grünen fand.

Das erste Sozialpaket dieser neuen Bundesregierung schickten wir im Rahmen einer größeren Aktion über die Post zurück an den Absender. Die Agenda 2010 und Harzt IV waren trotzdem nicht zu verhindern. Stichwort: Abrissbirne.

„Am 9. November 1989 haben wir mit der Maueröffnung auch die Abrissbirne gegen den Sozialstaat in Stellung gebracht. Hartz V bis Hartz VIII werden demnächst folgen. Es ist ein Klassenkampf, und es ist gut so, dass der Gegner auf der anderen Seite kaum noch wahrzunehmen ist.“ So der ehemaliger Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Michael Rogowski in Phoenix am 16. Dezember 2004. Und aus dieser Stärke heraus setzte sich die Schröderregierung durch und baute den Sozialstaat ebenso um wie ab.

Lieber Peter, vielen Dank für Deine Erinnungen, Analyen, Einschätzungen und Berichte!

Der ehemalige Geschäftsführung Peter Diegel-Kaufmann, der die WALI fast 30 Jahre lang leitete.